Thema: Ich
Eine der wohl umstrittensten Erscheinungen, der auf dieser Welt die meiste Aufmerksamkeit geschenkt werden dürfte, ist das Ich.
Viele Menschen setzen ihr Ich über alles und betrachten den Rest der Welt entweder als für ihr Ich und seine Wünsche und Bedürfnisse mehr oder weniger nützlich, oder als Feind, der sie beim Ausleben ihrer Gefühle und Vorstellungen behindert. Sie würden sich um Nichts in der Welt von diesem Ich trennen, beurteilen alle Anderen als mehr oder weniger minderwertig und schrecken nicht davor zurück, andere für ihren Vorteil auszunutzen und zu verletzen.
Eine aufmerksame, unvoreingenommene Beobachtung der Menschen, wie auch verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass dies eine vollkommen natürliche Phase in der menschlichen Entwicklung ist, eine offensichtlich notwendige Stufe zur Selbsterkenntnis und zum Erwachen in das reine Sein.
Bedauerlicher Weise scheint diese Phase jedoch bei vielen Menschen ein Leben lang anzudauern. Auch wenn sich bei vielen mitunter Ansätze von echtem Mitgefühl zeigen, bleiben sie doch auf dieser Stufe oft jahrelang, mitunter bis zu ihrem Ende hängen. Das Mitgefühl bleibt meist auf den Kreis von Nation, Familie, Gruppe, Freunden und Geliebten beschränkt, alle anderen werden als nützliche Instrumente, als Feind oder als wertlos betrachtet, und man kann mit ihnen mehr oder weniger umspringen, wie man will - oder muss sie gar bekämpfen.
So sehr das auf den ersten Blick als Selbstbewusstsein erscheinen mag, ist es doch nichts anderes, als dessen Fehlen. Solche Einstellungen, die in unterschiedlicher Ausprägung sehr weit verbreitet sind, entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Ausdruck von Angst, Unsicherheit und Hilflosigkeit.
Interessant ist, dass dies keineswegs ein soziales Phänomen zu sein scheint, sondern auf der ganzen Welt beobachtet werden kann. Es handelt sich offenbar, wie schon erwähnt, tatsächlich um eine natürliche, notwendige Entwicklungsphase, denn wer kein egozentrisches Ich entwickelt hat, kann auch nicht darüber hinaus wachsen. Ich will nicht ausschließen, dass es Ausnahmen geben kann, Menschen, die schon in frühester Kindheit voller Mitgefühl für alle fühlenden Wesen sind und ihnen auf Augenhöhe begegnen. Wenn man sich so auf der Welt umschaut, dürften sie aber sehr selten sein.
Wenn Menschen aber, wie es zurzeit offenbar noch sehr häufig der Fall ist, nicht über diese Phase hinaus wachsen, kann man dies nur als Störung in der Entwicklung, als Krankheit betrachten, die der Heilung bedarf. Und die einzige Heilung, die es dafür gibt, ist Spiritualität. Nur wenn wir anfangen, zu erkennen, dass wir nicht nur ein Ich mit seinen "niederen" Bedürfnissen und egozentrischen Wünschen und Vorstellungen sind, sondern das alles nur der Ausdruck unseres Geistes ist, können wir uns weiter entwickeln.
Hier möchte ich kurz anmerken, dass auch viele vermeintlich spirituelle Menschen noch immer auf dieser Ebene fest hängen. Auch wenn sie bereits den Geist hinter der Erscheinung erkannt haben, hilfsbereit sind und sich bemühen, Anderen keinen Schaden zuzufügen, geschieht dies oft noch aus rein egozentrischen Motiven. Zum Beispiel, weil es chic ist und Anerkennung verspricht, spirituell zu sein, oder weil man damit viel Geld verdienen kann. Oder weil man jemanden, der wahrhaftig spirituell ist, liebt und ihn auf diese Weise erobern möchte. Von der Anerkennung, die die Egos von manchen Yogalehrern oder spirituellen Meistern ernten, ganz zu schweigen.
Damit wäre ich jetzt bei der Kehrseite angelangt, dem spirituellen Ich. Ja, genau! Es gibt kein spirituelles Wesen auf dieser Welt, ohne ein Ich! Lasst euch nichts vorgaukeln und versucht nicht verzweifelt, euer Ich oder Ego von euch zu reißen oder weg zu meditieren. Das ist vollkommen sinnlos. Es gibt immer ein Ich. Selbst der ganze Kosmos ist ein unendlich großes Ich. Ohne Ich gibt es keine Existenz.
Viele Menschen auf spirituellen Pfaden machen diesen Fehler, zu glauben, sie könnten ohne Ich existieren. Und viele schaffen es auch tatsächlich, das ungeliebte Ich zu überwinden, es weg zu meditieren oder mit Drogen zu betäuben. Aber das Ich bleibt. Auch wenn es gelingt, es vorübergehend aus dem Bewusstsein zu verbannen. Das Bewusstsein glaubt dann zwar, kein Ich mehr zu sein, aber es ist immer noch das Bewusstsein eines Ich, was glaubt, ichlos zu sein. Und damit ist es eine unbewusste Identifikation mit all ihren bekannten Risiken und Nebenwirkungen.
Wer vollkommen erwacht ist und im reinen Sein ruht, käme nie auf die Idee, zu behaupten, er hätte kein Ich. Die wahrhaftigsten, strahlendsten Lehrer und Meister, denen ich bisher begegnet bin, hatten alle ein gigantisches Ich.
Die in spirituellen Kreisen beliebte Idee, das Ich zu bekämpfen und zu leugnen, führt nur dazu, das es sich hinten herum wieder einschleicht. Man gerät völlig unerwartet in mitunter sehr unangenehme Situationen und sinnlose Auseinandersetzungen, fühlt sich verletzt, unverstanden und ungeliebt, weil man eben doch noch Ich ist, auch wenn man nicht daran glaubt.
Man kann das durchaus auch als Krankheit, eben als spirituelle Krankheit betrachten, die einem wieder auf der gegenwärtigen Stufe fest hält und an der weiteren Entwicklung hindert. Wer glaubt, sein Ich überwunden zu haben, es endlich geschafft zu haben und vollkommen frei zu sein, übersieht dabei leicht, dass er immer noch lebt, atmet, denkt und fühlt.
Es findet keine wirkliche Entwicklung statt, wenn wir mit unserem Bewusstsein eine neue Ebene betreten und Bestandteile der alten Ebene verwerfen. Es ist schließlich das Ich, was den Sprung von der egozentrischen Ebene auf die spirituelle Ebene macht, und wenn wir es dort leugnen, wird es uns unweigerlich wieder herunter ziehen, um liebevoll mitgenommen zu werden.
Ich muss gestehen, dass auch ich die Neigung hatte, mein Ich gelegentlich etwas zu vernachlässigen und mich ganz darauf zu konzentrieren, das anzunehmen, was gerade ist. Zum Glück ist es nur alle paar Jahre mal passiert, dass ich mich dabei zu sehr vergessen habe, bis ich schließlich auf recht unangenehme Weise wieder an mich erinnert wurde. Auch das gehörte wohl zu meinem Entwicklungsprozess, obwohl ich es mit mehr Achtsamkeit sicher hätte vermeiden können.
Deswegen noch einmal mein Rat: gebt euer Ich nicht auf, versucht es nicht los zu werden. Werdet euch seiner bewusst, liebt und integriert es. Behandelt euch Selbst nicht besser oder schlechter, als Andere, denn das rächt sich. Das reine Sein und Ich sind nicht-Zwei, Advaita.
Alles Liebe.